Wohnen für Alle – Die Forderungen des Jugendwohnkongress 2024

Unter dem Motto "Und bei dir so?!" haben sich junge Menschen über ihre Wohnsituationen ausgetauscht und beraten, was sich in Berlin ändern muss, damit der Wohnungsmarkt auch wirklich alle berücksichtigt und nicht nur einen kleinen, privilegierten Teil der Bevölkerung.

Das Thema „Wohnen“ ist im Bereich der Jugendbeteiligung ein neues. 2022 initiierte der Gangway e.V. den Aktionstag „Hände hoch für bezahlbaren Wohnraum“. Über den Instagram-Kanal der Organisation teilten junge Menschen unter dem Hashtag #ichwillwohnen ihre Geschichten und ihre Anliegen zu bezahlbaren und lebenswerten Wohnraum in Berlin.

Die Themen, die in den Foren und Workshops besprochen wurden, haben junge Menschen selbst gesetzt. Auf einem Vorbereitungswochenende im November 2023 haben sich Jugendliche in einem Barcamp getroffen und besprochen, welche Aspekte rund um das Thema Wohnen auf dem Kongress vertreten sein sollen. Die Ergebnisse wurden von den Projektverantwortlichen zusammengetragen und schlussendlich zu einem Programm zusammengefasst.

Der Anspruch vom Jugendwohnkongress war es nicht, alle bestehenden Probleme, mit denen junge Menschen auf dem Wohnungsmarkt konfrontiert sind, zu identifizieren und zu lösen. Der Kongress brachte junge Menschen zusammen, empowerte sie und bot ihnen konkrete Handlungsmöglichkeiten, selbst aktiv zu werden.

Viele Menschen haben aufgrund von strukturellen Problemen keinen gleichberechtigten Zugang zu Wohnungen – sie sind auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt. Diese Benachteiligung tritt in verschiedenen Formen auf. Und obwohl das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ungerechtfertigte Benachteiligung auf dem Wohnungsmarkt nicht zulässt, haben nicht alle die gleichen Chancen und Privilegien auf dem Wohnungsmarkt. Das stellen auch die Teilnehmenden des Jugendwohnkongresses in verschiedenen Diskusionsrunden fest – wohnen sei…

  • … ungerecht: Das AGG soll den unterschiedlichen Voraussetzungen, die Menschen auf dem Wohnungsmarkt haben entgegenwirken. Dies ist in der Realität nur leider nicht der Fall. Unterschiedlich gewichtetes Einkommen, unterschiedliche Formen des Zusammenlebens und auch (rassistische) Diskriminierung sind strukturelle Probleme auf dem Wohnungsmarkt – und das nicht nur in Berlin.
  • … diskriminierend: Menschen werden aufgrund ihrer physischen Erscheinung – ihrer gelesenen Herkunft, ihres Geschlechts oder einer körperlichen Einschränkung – benachteiligt. Menschen mit Behinderungen werden benachteiligt, weil Zugänge zum Haus oder zur Wohnung nicht immer barrierefrei sind. Im Auswahlverfahren zur Miete einer Wohnung erhalten sie keinen Besichtigungstermin oder werden in der engeren Auswahl nicht mehr berücksichtigt. So haben laut der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in einer Umfrage 35% aller Befragten mit Migrationshintergrund von Rassismuserfahrungen auf dem Wohnungsmarkt berichtet.
  • … heteronormativ: Der deutschlandweite Durchschnitt von Wohnraum, den Menschen zu Verfügung steht, liegt bei 47 Quadratmeter pro Person. Durch die hohe Bevölkerungsdichte eine Person in Berlin nur noch 39 Quadratmeter Platz. Neben dem Unterschied zwischen ländlichem und städtischem Wohnen spielen dort auch Wohnkonstellationen (mit wem wohne ich zusammen?) eine Rolle. In Einfamilien-Häusern, die vor allem in ländlichen Räumen stehen, haben Menschen demnach mehr individuellen Platz als in städtischen Räumen. Das unterstützt heteronormative Formen des Zusammenlebens.
  • … unbezahlbar: Viele Vermieter:innen verlangen einen Nachweis, dass die Mietpartei nur 30% ihres Nettoeinkommens für Miete ausgibt. Durch die hohen Mieten in Berlin ist das für Studierende, Auszubildende oder Renter:innen oft nicht möglich. Sie zahlen bis zu 60% ihres Einkommens für ihre Miete.

Wie Beteiligung zum Thema “Wohnen” aussehen kann, schilderten Estera Stan und Bana Mahmood in ihren Inputs. Estera erzählte von ihren Erfahrungen auf dem Berliner Wohnungsmarkt aus der Perspektive einer jungen Romnja. Wohnen bedeutet für sie nicht nur Sicherheit und die Gestaltung eines eigenen Raums. Mit Wohnen verbindet sie Diskriminierungserfahrungen, die sie selbst, ihre Freunde und ihre Familie gemacht haben. “Der Wohnungsmarkt ist rassistisch und hat System.” Auch wenn sie nicht stellvertretend für die gesamte Community sprechen kann, weil auch Diskriminierungserfahrungen hochindividuell sind, schafft sie Awareness für die Auswirkungen, die die Diskriminierungserfahrung für junge Menschen haben können: Sie schüren Ängste, beeinträchtigen die mentale Gesundheit und sorgen dafür, dass Menschen sich für ihren Wohnort schämen. Gemeinsam mit Freund:innen hat Estera ein Projekt gestartet und aufbauend auf ihren Erfahrungen ein Plakat gestaltet, dass ihre Forderungen für einen diskriminierungsfreieren Wohnort zusammenfasst: Schöne Wohnumgebungen, größere Wohnungen für mehr Privatsphäre, Entscheidungsträger:innen sollen die Auswahlprozesse für Bewerber:innen so rassismuskritisch wie möglich gestalten und nicht nur Familien und Lebenspartnerschaften, sondern auch Freundesgruppen sollen einen Wohnberechtigungsschein (WBS) beantragen dürfen.

Bana setzt sich als Aktivistin bei der Initiative “Deutsche Wohnen enteigenen” für bezahlbarere Mietpreise ein. Sie selbst hat mit Berlin einen Wohnort gefunden, in dem sie sich zu Hause fühlt. Nicht jeder hat aber das Glück, in Berlin eine für sich geeignete – und bezahlbare – Wohnung zu finden. Bana sagt, “Miethaie” und große Mietkonzerne wie “Deutsche Wohnen” und “Vonovia” steigerten künstlich die Mieten für den Profit des eigenen Konzerns – auf Kosten der Mieter:innen. Die Initiative “Deutsche Wohnen enteigenen” startete deshalb zur Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses 2021 einen Volksentscheid, bei dem das Land Berlin dazu aufgerufen wird, Wohnungen der Konzerne zu Kaufen und staatlich zu verwalten. Bis heute wurde der Volksentscheid, bei dem 57,6% der Wähler:innen für eine Enteignung gestimmt haben, nicht umgesetzt. Für die Aktivist:innen entstand dadurch ein Gefühl der Ohnmacht. Dem wirkten sie entgegen, indem sie einen zweiten Volksentscheid erarbeitet haben. Im Rahmen des “Gesetzesvolksentscheids” arbeitet das Team zur Zeit an einem Gesetz, dass sie zum Volksentscheid vorlegen werden. Eine Maßnahme, die wegen des hohen Aufwands und hoher Anwaltskosten bisher noch nie ergriffen wurde. Sollten die Wähler:innen für den Vorschlag stimmen, ist der Berliner Senat verpflichtet, das Gesetz umzusetzen, nur das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe könnte dem entgegenwirken.

Beide Speakerinnen inspirierten die Teilnehmenden mit ihrem Mut und ihrem Einsatz für gerechtes und rassismuskritisches Wohnen. So individuell, wie die Möglichkeiten, sich für besseres und gerechteres Wohnen einzusetzen, ist auch das Wohnen selbst. Die zahlreichen Facetten des Wohnungsmarktes und Wohnens an sich wurden in der Forumsphase erarbeitet. Das Forum “Mehr als ein Dach überm Kopf” tauschte sich über individuelle Wünsche und Bedürfnisse in Bezug zum Wohnraum aus. Ruhige Atmosphäre oder direkt an der Bahn, Innenstadt oder doch lieber auf dem Land? Jeder Mensch hat unterschiedliche Vorstellungen davon, wie und wo er wohnen möchte. Ähnliche Gedankenspiele führte auch das Forum “Wohnungsutopien” durch. Anhand von Zeichnungen gestaltete die Gruppe ihre eigene Traumwohnung. Ein großer Arbeitsplatz oder eine komplette arbeitsfreie Zone; ein Pool im Wohnzimmer oder lieber viele Grünpflanzen? Beide Foren waren sich einig: Wohnen sollte nicht zur Gewinnmaximierung einzelner Konzerne beitragen und der Wohnungsmarkt muss so individuell gestaltet sein, dass jeder Mensch einen Rückzugsort findet, der die eigenen Bedürfnisse erfüllen kann – und das zu einem fairen Preis.

Die weiteren Foren behandelten die rechtlichen Grundlagen und strukturellen Probleme des Marktes und diskutierten anschließend, wie Wohnen nachhaltiger, diskriminierungsfreier und mit weniger hierarchischen Strukturen gestaltet werden kann. Das Forum “Macht und Ohnmacht” forderte mehr demokratische Teilhabe sowie die Rückkehr des Mietendeckels und der Mitpreisbremse. Die Teilnehmenden des Forums “Wohnen und Empowerment” erstellten eine Übersicht von Beratungsmöglichkeiten und Anlaufstellen für Personen, die auf dem Wohnungsmarkt von Diskriminierung betroffen sind. Die Message: Es gibt gute Unterstützungsangebote – und wir machen sie hier sichtbar!

Vertreter:innen und Aktivist:innen fordern in verschiedenen Bereichen einen besseren Zugang zum Berliner Wohnungsmarkt. Wohnen muss nicht engstirnig sein, wohnen ist…

  • … hoch individuell: Jede:r hat unterschiedliche Erwartungen und Anforderungen an eine Wohnung und deren Umgebung. Natürlich kann nicht für jede:n persönlich eine maßgeschneiderte Wohnung gebaut werden, aber die verschiedenen Bedürfnisse sollten dennoch in der Stadtplanung berücksichtigt werden.
  • … bedürfnisorientiert: Grünflächen, Zugang zum ÖPNV, Freizeitangebote. Jeder Mensch mit bestimmten Bedürfnissen sollte auch die Möglichkeit haben, sich diese zu erfüllen.
  • … rassismuskritisch und anti-rassistisch: Der Auswahlprozess sowie die Betreuung durch den/die Vermieter:in sollte frei von eigenen rassistischen Verhaltensweisen sein, sodass jeder Mensch, unabhängig von seiner Herkunft oder Religion, gleichbehandelt wird.
  • … partizipativ: Nachmieter:innen bei der Renovierung mit einbeziehen oder Vorschläge für die Grünanlagen im Hof annehmen – es gibt verschiedene Möglichkeiten wie Mieter:innen mit einbezogen werden können.
  • … gerecht: Durch diskriminierende und patriarchale Strukturen unserer Gesellschaft und Politik hat nicht jeder Mensch einen gleichen Zugang zum Wohnungsmarkt. Benachteiligte Personen verdienen (kostenfreie) Unterstützung, um ebendiese Benachteiligung ausgleichen zu können. Außerdem haben privilegierte Menschen (wenn sie sich aktiv und kritisch mit ihren eigenen Privilegien auseinandersetzen) immer die Möglichkeit, anderen Menschen, die diese Privilegien nicht haben, zu unterstützen und die Welt somit Chancengerechter zu machen!

Damit Wohnen mit diesen Attributen verbunden wird, sind die Verantwortlichen aus der Politik aufgerufen, Maßnahmen für gerechteres und zugänglicheres Wohnen zu entwickeln.

Die in den Foren erarbeiteten Forderungen wurden in der darauffolgenden Workshop-Phase visualisiert und in verschiedenen kreativen Formaten umgesetzt. Mit ein bisschen Phantasie und konkreten Vorstellungen wurden nachhaltige Wohnkomplexe mit LEGO-Klemmbausteinen errichtet. Auf einem gemeinsamen Minecraft-Server entstand eine kleine Stadt aus Gartenanlagen, einem Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), verschiedenen Wohnanlagen und Freizeitangeboten. Die Eindrücke des Kongresses samt der Forderungen wurden durch ein Podcast-Team eingefangen und ein anderes Team verfasste aus den Forderungen das Manifest.

Die verschiedenen Möglichkeiten machen deutlich: Wohnen ist nicht nur durch Machtstrukturen aufgeladen, sondern kann ein durchaus partizipativer Prozess sein – wenn man alle zu Wort kommen lässt. Der Kongress ermöglichte den Teilnehmenden, ihre Stimme und ihren Raum im Themenkomplex einzunehmen und dabei Bewusstsein für diverse Wohnsituationen und -bedürfnisse zu schaffen.

Zum krönenden Abschluss wurden die Forderungen an die Politik übergeben. Falko Liecke, Staatssekretär für Jugend des Landes Berlin, empfing am Abend das Manifest des Jugend-Wohnkongresses. Den ganzen Tag über haben junge Menschen daran gearbeitet, ihre Vorstellungen für besseres Wohnen auszuformulieren. Mit der Übergabezeremonie stieg die Hoffnung, dass ihre Forderungen nun in der Berliner Landesregierung Gehör finden.

Der Jugendwohnkongress war eine Kooperation zwischen der Evangelischen Hochschule Berlin, dem Landes Jugendring Berlin, dem Gangway e.V., der Evangelischen Akademie zu Berlin gGmbH und theologie der stadt berlin. Die Veranstaltung wurde gefördert aus dem Programmbereich 1A des Jugend-Demokratiefonds.

Ein Projektbericht von Sina Füting